1913: Wie aus Wilderei plötzlich Mord wird
Serie Verbrechen, die die Menschen auf den Fildern bewegten (Teil XV und Schluss)
Plattenhardt/Waldenbuch. Verbrechen geschahen und geschehen täglich, auch auf den Fildern. Doch nur manche Untaten gelangen an die Öffentlichkeit, noch weniger wühlen die Menschen wirklich auf. Unser Mitarbeiter Ulrich Gohl erzählt von spektakulären Fällen aus den letzten fünf Jahrhunderten, die er in alten Chroniken entdeckt hat. Heute: die Wilderer als Mörder.
Es ist der 19. Juli 1913. In der Burkhardtsmühle soll eine große Holzrestaurierung stattfinden, zu der auch die meisten Forstleute des Reviers erwartet werden. Das, so glauben die beiden Wilderer, der 18-jährige Gottlob Ruck und der 19-jährige Christian Mack, beide aus Plattenhardt, sei doch ein geeigneter Moment für einen ungestörten Beutezug. Zumindest für M. ist dies nichts Ungewöhnliches: Er ist mehrfach einschlägig vorbestraft, und auch sein Vater gilt, so ein zeitgenössischer Bericht, als „berüchtigter Wilderer.” Die Wilderei hat in den Dörfern im und am Schönbuch durchaus Tradition. Besonders in Notzeiten blüht sie auf, auch noch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier verrät sich das Hauptmotiv vieler Täter: der blanke Hunger. Dazu kommt, dass das herrschaftliche Jagdrevier oft stark mit Wild überbesetzt ist, damit den hohen Herren gewiss etwas vor die Flinte kommt – Wildschäden in den sowieso oft nur dürftigen Äckern sind zu diesen Zeiten an der Tagesordnung. Schließlich mag auch Abenteuerlust den einen oder anderen Wilddieb angetrieben haben.
R. und M. jedenfalls nehmen an jenem Nachmittag ihre Gewehre auseinander, verstecken sie unter ihren Jacken und kommen gegen drei viertel fünf Uhr im Walde an. Dort setzen sie ihre Schusswaffen wieder zusammen und pirschen durch den Forst. M. hat Glück, er erwischt immerhin einen Hasen. Die beiden schleichen weiter zur Glashütte und kehren ohne weitere Beute zurück. Unglücklicherweise weilt der Forstanwärter Wilhelm Klingler aus Waldenbuch nicht bei der Holzauktion, sondern macht einen seiner üblichen Kontrollgänge. Kurz vor acht Uhr abends entdeckt er die beiden Wilderer und fordert sie lautstark auf, ihre Waffen wegzulegen. M. folgt dem auch, R. hingegen geht – samt Gewehr – in Deckung. Als er hinter einen dickeren Baum huschen will, schießt der Forstbeamte sofort eine Schrotladung ab und trifft R. am Arm. Nun gibt auch R. scheinbar auf, kommt aus der Deckung und stellt sich neben seinen Komplizen.
Klingler will die beiden Ertappten durchsuchen und tritt auf sie zu. Kaum in Reichweite, schlägt ihm M. die Flinte nach oben, der Schuss löst sich – Klingler steht den beiden Verbrechern mit ungeladener Waffe gegenüber. Die stürzen sich auf ihn, R. ringt mit ihm am Boden, derweil M. das Gewehr des R. holt und auf den Beamten schießt. (Vielleicht hat aber auch R. geschossen; das Strafverfahren wird an diesem Punkt keine Klarheit bringen.) Die Kugel dringt über dem linken Schulterblatt ein und an der rechten Brustseite aus. Klinglers Kräfte lassen nach, R. und M. schlagen mit den Gewehrkolben auf den Wehrlosen derart ein, dass die Waffen zerbrechen. Der Forstbeamte bleibt mit mehreren Schädelbrüchen liegen. Die Wilderer fliehen. Doch nach einigen Minuten bemerken sie, dass M. sein Messer verloren hat, und R. vermisst einen Teil seines Gewehres. So kehren sie noch einmal zu dem schwer verletzten Klingler zurück. Der hat sich inzwischen mit letzter Kraft weitergewälzt. Die beiden zerren den Röchelnden in ein Tannendickicht, damit er nicht so schnell entdeckt werden soll: R. hofft, vorher noch seine Schusswunden von einem Arzt behandeln lassen zu können. R. nimmt das Gewehr des Forstanwärters mit -„als Andenken”, wie er später sagt. R und M. gehen, als wäre nichts geschehen, ins Plattenhardter Gasthaus „Zum Posthörnle” und trinken dort Schnaps und Bier. R. erzählt seinen Eltern noch am gleichen Abend von den Geschehnissen und lässt sich verarzten.
Das Verschwinden Klinglers wird bald bemerkt, R. und M. geraten unter den Verdacht, etwas damit zu tun zu haben. Nun erkennen die beiden die Ausweglosigkeit ihres Tuns und stellen sich – getrennt – der Polizei. M. führt die ermittelnden Stuttgarter Kriminalbeamten zum Leichnam Klinglers, den man bis dahin vergeblich gesucht hat.
Am 10. November 1913 wird gegen die beiden Wilderer, die zu Mördern geworden sind, vor dem Schwurgericht in Stuttgart verhandelt. Sie geben ihre Taten im Wesentlichen zu, keiner aber will den Schuss abgefeuert haben, jeder belastet den anderen. Das Gericht verurteilt M. zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und sieben Monaten wegen gemeinschaftlich ausgeführten erschwerten Totschlags und Jagdvergehens, R. wegen der gleichen Delikte zu zwölf Jahren und einem Monat. Beide kommen sofort in Haft.
Doch R., der keinerlei Reue gezeigt und noch im Gerichtssaal wilde Drohungen ausgestoßen hat, bricht 1917 aus dem Zuchthaus in Ludwigsburg aus. Er taucht unter. Ein Jahr später, in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1918, will ihn der Polizeibeamte Georg Bauer von Waldenbuch auf der Straße kontrollieren. R. erschießt auch ihn. Aber bald schon wird R. erneut verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Er stirbt während der NS-Zeit unter ungeklärten Umständen im Zuchthaus.
M. hingegen sitzt seine Strafe ab und wandert dann nach Amerika aus. Dort bringt er es zu beträchtlichem Wohlstand. „Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er als begüterter Mann wieder auf die Filder zurück und wohnte bis zu seinem Tod in Harthausen”, berichtet der Stadtarchivar Nikolaus Back in dem äußerst lesenswerten, 2005 erschienenen Band „Filderstadt und sein Wald”.
Quelle: Filder-Zeitung Nr. 78, Montag, 3. April 2006