Impressionen vom Einmarsch der Franzosen 1945

Tübinger Strasse ca. 1940

Tübinger Strasse ca. 1940


Wenn man von Dettenhausen kommend Richtung Waldenbuch fährt und dann nach dem Braunacker aus dem Wald kommt, war von dem im Aichtal liegenden alten Waldenbuch zunächst nichts zu sehen. Ausser dem Wochenendhaus Rist gab es auf den Höhen keine Bebauung. So stellte sich das Bild auch für die anrückenden französischen Truppen 1945 dar. Es lag also nahe das Feuer auf das exponierte Haus in der Landschaft zu eröffnen, in dessen Untergeschoss meine Eltern mit uns 4 Buben sassen. Der anhaltende Beschuss wurde derart bedrohlich, dass der Vater trotz seiner Schwerbeschädigung von 1914 beschloss, mit uns in den Bunker beim alten Friedhof zu flüchten. Als dort die Kunde vom erfolgten Einmarsch eintraf und wir den Bunker kontrolliert verlassen konnten, eilten wir so schnell wie möglich wieder auf den Berg, was sich als absolut richtig erwies. Kaum waren wir oben angelangt, als auch schon der erste Besatzer den Steilhang heraufstürmte, um das Anwesen zu inspizieren. An der Salutkanone im Untergeschoss nahm er keinen Anstoss. Stattdessen verlangte er Schnaps, den ihm der Vater in seine Feldflasche einfüllte, um einem etwaigen Sturztrunk vorzubeugen.

Mein Onkel, Walther Rist (Architekt unseres Hauses im Jahr 1927), war an einem der Sonntage vor dem Einmarsch mit zwei schmucken Burschen zu Besuch bei uns erschienen. Es stellte sich bald heraus, dass es sich dabei um unsere beiden Bäsle handelte, die er vorsorglich zu Knaben „umgebaut“ hatte. Er berichtete, dass die Franzosen in ihrer Truppe Marokkaner mitführten und diesen grosse Freiheiten einräumten.

Am Tag des Einmarsches kamen dann auch tatsächlich 32 Marokkaner entweder alleine oder höchstens zu zweit auf Beutezug zu uns. Wir waren jedoch nach der hilfreichen Vorinformation gut vorbereitet. An den verschiedenen Fenstern wurden Familienmitglieder als Beobachtungsposten platziert. Wenn sich jemand näherte, rückten wir sofort aus, vorneweg der Vater und wir 4 Buben wie die Orgelpfeifen hinterher. Die Mutter wurde natürlich unsichtbar im Haus zurückgelassen. So gelang es dem Vater dank seiner Französisch-Kenntnisse alle Invasionen bereits im Garten abzuwehren. In besonders hartnäckigen Fällen musste er indes sein Arabisch einsetzen. Nur ein wohl Höhergestellter erwies sich als völlig unzugänglich. Er platzierte seinen Begleiter auf der Altane vor dem Hauseingang, marschierte durch die Küche und rückte sich einen Stuhl mitten ins Wohnzimmer, auf dem er sich geräuschvoll, das Gewehr zwischen den Beinen, niederließ. Auch jetzt war ihm auf jegliche Ansprache keine Antwort zu entlocken. Schließlich zeigten wir ihm 2 gerahmte Fotografien aus Vaters Ägyptenzeit, die im Schlafzimmer aufgehängt waren. Nun verlangte er ein Glas Wasser. Zeigte auf den Bücherschrank und erklärte, der Vater sei ein gelehrter Herr. Darauf nahm er seinen Abschied.

Am nächsten Tag spielten wir Kinder am Sandkasten, als ein Marokkaner in weisser Djellaba, ein noch heute viel getragener traditioneller marokkanischer Kapuzenmantel, zu uns trat. Er erwies sich als der Wächter vom Vortag. Mit einem Schwung holte er seine Kapuze nach vorn und reichte uns daraus von seiner Schokoladenration. In den darauf folgenden Tagen, als die Truppe noch in Waldenbuch stationiert war, besuchte uns Ali jeweils zum Abendessen und bestand darauf, dass wir seine im Sacktuch mitgebrachten weissen Nudeln bekamen, währen er von unseren damals üblichen dunklen ass. Ich sehe ihn noch heute auf der Holzbank am grossen Esstisch im Wohnzimmer sitzen. So hatten wir Kinder bei aller potentieller Gefährlichkeit der Besatzer von den Marokkanern einen sehr lebendigen und im Rahmen des Möglichen letztlich positiven Eindruck.

Unser Ali war ein lieber Mensch und auch die vielen Marokkaner, die im Städle in den Scheunen kampierten und so ein buntes orientalisches Bild abgaben, waren meist kinderfreundlich. So konnte man ihnen z.B. 10-Pfennig Münzen bringen, aus denen sie dann bis zum nächsten Tag einen schönen Fingerring machten. Beeindruckend war auch, wenn sie sich der unbereiften Fahrräder bemächtigten und damit durchs Städtle fuhren. Sie waren immer sehr unternehmend. Einmal fragten uns z.B. welche mit Auto, wo es hier nach „der Kuh ihr kleines Kind“ gehe und als wir nicht verstanden, sagten sie „Du nix Forele verstain?“ Wir kamen dann später darauf, dass sie den Weg nach Calw suchten, um dort in der Nagold Forellen zu fangen. Den positiven Eindruck von damals konnte ich später auf zahlreichen Marokkoreisen – zum Teil in Begleitung von einem meiner beiden heranwachsenden Söhne – vertiefen.

Hansjörg Rist im Mai 2013

Weiterführende Informationen zu der Besatzungszeit 1945 durch die Franzosen.

Print Friendly, PDF & Email